B. Studer: Reisende der Weltrevolution

Cover
Titel
Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale


Autor(en)
Studer, Brigitte
Erschienen
Berlin 2020: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
618 S.
Preis
€ 30,00
von
Jan Rybak, European University Institute

Brigitte Studer hat mit Reisende der Weltrevolution eine tiefgehende, spannende und wunderbar zu lesende Sozial- und Milieustudie der Kommunistischen Internationalen vorgelegt. An frühere Forschung anknüpfend beschreibt die Autorin, aufbauend auf einer beeindruckenden Quellensammlung und Literaturarbeit, die Lebens- und Arbeitsrealität kommunistischer Kader im Dienst der Komintern. Zwischen revolutionärem Aktivismus und Spionage, bürokratischem Arbeitsalltag, Flucht vor der Polizei, Entbehrungen, Verfolgung durch die ‹eigenen› Leute und emotionalen Erfahrungen bewegen sich die Akteur/innen, die sie mit grosser Sensibilität analysiert in einem immer komplexeren Spannungsfeld. Der Ausgangspunkt der Studie ist die «revolutionäre ‹Generation von 1920›» (S. 31), jene überwiegend junge Menschen die sich, begeistert von der Russischen Revolution und dem Versprechen der Kommunistischen Internationale die ganze, durch Krieg und Ausbeutung geprägte alte Welt auf den Kopf zu stellen, in den Dienst der Sache stellten.

Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen schlossen sich der Komintern an. Wie Studer schreibt: «Den Kommunisten gab es nicht.» (S. 529) Gemein hatten die von ihr beschriebenen Aktivist/innen jedoch ihr unstetes Leben mit gepackten Koffern, den Einsatz und die Disziplin für die (vermeintlich) gemeinsame Sache und die freiwillige Aufgabe eines traditionellen bürgerlichen Lebensstils. So bildeten die «Mitglieder des internationalen Kommunismus der Zwischenkriegszeit […] eine über die sich weltweit erstreckenden Räume durch eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Praktiken verbundene Gemeinschaft oder eigene Lebenswelt.» (S. 23). Sie «waren Teil einer der größten kollektiven Erfahrungen des 20. Jahrhunderts» (S. 526). Besonders hervorzuheben ist Studers Analyse der Geschlechterverhältnisse innerhalb der Komintern. Einerseits beleuchtet sie bisher weitgehend vergessene weibliche Revolutionär/innen wie Fanny Jezierksa, Hilde Kramer, Tina Modotti, Mentona Moser oder Ruth Oesterreich. Gleichzeitig zeigt sie auch die zentrale Rolle, die Gender (oft unausgesprochen) in der tagtäglichen Arbeit und in den sozialen Beziehungen der Komintern-Mitarbeiter/innen spielte, und wie in der Komintern selbst Anspruch und Realität im Bereich der Geschlechterverhältnisse divergierten.

Das Buch ist Teils chronologisch, teils geographisch organisiert. Den Rahmen für die einzelnen Kapitel bilden die Orte revolutionärer Aktivität: vom Komintern-Kongress und dem revolutionären Arbeitsalltag in Moskau, der Hauptstadt der Weltrevolution, zu den Versuchen die «Völker des Ostens» von Baku aus zu revolutionieren, dem Westeuropäischen Büro der Kommunistischen Internationale in Berlin, zu Zentren antikolonialer Aktivität wie Brüssel, bis Shanghai, Wuhan, Barcelona und Albacete. Studer gelingt es, jeden dieser geographischen Räume zum Ansatzpunkt für die Analyse der Handlungsrahmen und Wahrnehmungen ‹ihrer› Akteur/innen zu nutzen und die jeweils relevanten Kernaspekte der Arbeit der Komintern-Mitarbeiter/innen anhand lokaler Studien zu analysieren.

Studer untersucht die Geschichte der Komintern nicht – wie viele andere Arbeiten – in Hinsicht auf die ‹grossen› internen Konflikte, die Entscheidungen in Moskau und deren Auswirkungen auf die verschiedenen Parteien und Sektionen, sondern stellt die Akteur/innen in den Mittelpunkt. Dabei zeigt sie, wie sich die Veränderung der Komintern im Zuge der Stalinisierung im (Arbeits‐)Alltag der Mitarbeiter/innen widerspiegelte. So schreibt sie: «Auch die Komintern institutionalisierte sich. Sie wuchs zu einem Apparat mit festen Strukturen und Regeln. Und sie entwickelte eine Bürokratie mit ihrer eigenen Logik der Selbstbewahrung und Kontrolle.» (S. 179) Diese Veränderung, nicht zuletzt im Zuge der Theorie vom ‹Sozialismus in einem Land›, hatte tiefgehende Auswirkungen für viele der einst so begeisterten jungen Revolutionär/innen: «Mit der Entfernung der unmittelbaren Revolutionsperspektive und der Überhandnahme der Alltagsroutine schwand die Revolutionsromantik der Berufsrevolutionäre!» (S. 164) Immer öfter schienen die Mitarbeiter/innen – als disziplinierte Kader – neue Wendungen und neue Generallinien aus Moskau den lokalen Parteien als nicht zu hinterfragende Wahrheiten vermitteln zu müssen; immer öfter wurden Zweifel laut, und immer problematischer und gefährlicher wurde es, diese Zweifel auch offen zu äussern. In den späten 30er Jahren war dann eine ‹Einladung› nach Moskau keine ersehnte Chance mehr, sondern eine gefährliche Drohung, die mit dem Tod enden konnte. Zwar scheint es ohne Vorwissen oft schwierig, all die 180-Grad-Wendungen der Komintern – die für die Akteur/innen so entscheidend waren – einzuordnen und zu nachzuvollziehen. Die von der Autorin gewählte Perspektive, diese Veränderungen in ihrer Wirkung auf die Mitarbeiter/innen im Ausland zu analysieren, eröffnet jedoch grossartige neue Erkenntnisse.

Reisende der Weltrevolution ist ein ausserordentlich wichtiger Beitrag zur transnationalen Geschichte des Kommunismus, zur Erforschung der Komintern und nicht zuletzt zur Geschlechtergeschichte. Die Globalisierung durch Revolutionär/innen, im Zuge des, wie Studer schreibt, «neuen Globalisierungsanspruch[s] der Komintern» (S. 108), knüpft an Arbeiten zu revolutionären oder aktivistischen, transnationalen Netzwerken an und eröffnet neue Möglichkeiten und Perspektiven, um die Geschichte sozialer Bewegungen zu analysieren.

Zitierweise:
Rybak, Jan: Rezension zu: Studer, Brigitte: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 173-174. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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